"Ich wollt' ich wär' ein Huhn"
Bei der Diskussion um Nachhaltigkeit geht es
um ungelegte Eier. Denn über wieviel "natürliche" Ressourcen der Mensch verfügen
kann, entscheidet der jeweilige Stand der Technik. Auch absolute
Wachstumsgrenzen gibt es nicht, sagt Edgar
Gärtner.
Die Idee der nachhaltigen Waldnutzung findet
sich erstmals 1713 in der Sylvicultura Oeconomica des sächsischen
Oberberghauptmanns von Carlowitz. Durchgesetzt hat sich das Konzept zu Beginn
des 19. Jahrhunderts in Form der Fortbetriebswirtschaftslehre von Georg Ludwig
Hartig und Heinrich Cotta. Hintergrund war die großflächige Übernutzung
deutscher Wälder durch Schiffsholzexporte nach Holland, die Brennholzgewinnung
und nicht zuletzt die Waldweide und der Streuaustrag durch die Bauern. Während
die Wälder vielerorts nur noch minderwertiges Knüppelholz liefern konnten,
entstand mit der aufkommenden industriellen Revolution eine wachsende Nachfrage
nach gutem Bauholz. Um solches liefern zu können, mußten die Wälder ganz anders,
eben nachhaltig, bewirtschaftet werden. Hartig verstand unter der nachhaltigen
Nutzung eines Waldes ein mechanistisches betriebswirtschaftliches Modell
("Massenfachwerk"), das wie das Modell Cottas ("Flächenfachwerk") auf zwei
Grundsätzen beruhte: die Bäume auswachsen zu lassen und jedes Jahr nicht mehr
Holz zu schlagen als die Menge, die nachwächst. In einem 1.000 Hektar großen
Fichtenwald mit einer angenommenen Umtriebszeit von hundert Jahren durften also
im Schnitt jedes Jahr nur zehn Hektar abgeerntet werden. Dieses Modell hat mit
Ökologie noch wenig zu tun, denn es läßt sich am besten durch
Kahlschlagwirtschaft im gleichförmigen Altersklassenwald umsetzen. Immerhin
hatte die Forstbetriebslehre Hartigs und Cottas entscheidenden Anteil an der
Rettung des deutschen Waldes und machte deshalb nach und nach in der ganzen Welt
Schule.
1980 wurde die Idee der nachhaltigen Waldnutzung in
der von der Internationalen Naturschutz Union (IUCN) erarbeiteten "Weltstrategie
zur Erhaltung der Natur" zum Prinzip des "sustainable development" (SD)
erweitert. Damit trat neben den ursprünglich rein betriebswirtschaftlichen
Nachhaltigkeitsbegriff der eher nebelhafte Begriff "sustainability". Politische
Bedeutung erhielt dieser Terminus erstmals 1987 im Bericht "Our Common Future"
der sogenannten Brundtland-Kommission (benannt nach der Vorsitzenden der
UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung, Gro Harlem Brundtland). Hier findet
sich die inzwischen zur klassischen gewordene Definition von SD als "dauerhafte
Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die
Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu
befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen." Diese Begriffsdefinition, die nicht
nur die ökologische, sondern auch die soziale und ökonomische Dimension von
Entwicklung anspricht, liegt auch der auf der UNCED 1992 in Rio de Janeiro
beschlossenen "Agenda 21" zugrunde.
Bedenklich ist an der Rio-Konferenz zweierlei: Zum
einen beschäftigte sie sich mit ungelegten Eiern, den Bedürfnissen und
Wertschätzungen künftiger Generationen, über die wir nichts wissen können. Zum
anderen legte sie in dem neben der Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung
und der Konvention über die Biologische Vielfalt verabschiedeten
Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen in Form des Vorsorgeprinzips (Artikel
3.3) einen risikoscheuen, rückwärtsgewandten Umgang mit dem Nichtwissen nahe,
wie er von der Öko-Bewegung in die Diskussion gebracht worden war. Die Vermutung
drohender Umweltschäden soll danach bereits als Begründung für den Verzicht auf
die Nutzung von Ressourcen und Techniken ausreichen.
Für die Übersetzung des Begriffs "sustainable" bot
sich im deutschen Sprachraum das alte Wort "nachhaltig" an. Dieses begünstigt
allerdings die Konfusion mit dem überholten forstbetriebswirtschaftlichen
Konzept Hartigs und Cottas. Besser wäre wohl die wörtliche Übersetzung
"durchhaltbar". Es geht um eine sowohl ökonomisch und sozial als auch ökologisch
durchhaltbare Richtung der menschlichen Entwicklung auf lokaler, regionaler und
globaler Ebene. So gesehen, verstoßen etwa wachsende Staatsschulden, die wir
unseren Kindern und Enkeln hinterlassen, mindestens ebenso gegen das
Nachhaltigkeits-Postulat wie die Übernutzung von Naturpotentialen. Doch käme die
gleichzeitige Beachtung aller Dimensionen des SD der Quadratur des Kreises
gleich. Deshalb versteht der im Juli 1998 vorgelegte Abschlußbericht der
Enquête-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des 13. Deutschen
Bundestags SD nicht mehr als stoffliches Realmodell, sondern als "regulative
Idee" im Sinne des Philosophen Kant, d.h. als erkenntnistheoretisches Konstrukt,
das dem menschlichen Verstand bei Such- und Lernprozessen eine Richtung weist.
Dabei komme dem Markt als Testfeld für diskursiv erarbeitete Lösungsansätze
gesellschaftlicher Probleme zentrale Bedeutung zu.
Wie alle Ideale kann auch die regulative Idee der
Nachhaltigkeit nicht als solche unmittelbar verwirklicht werden. Es gibt keinen
direkten Weg vom Ideal der Nachhaltigkeit zu operativen Konzepten einer
durchhaltbaren Entwicklung. Das gilt sowohl auf politischer als auch auf der
volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene. Im Klartext: Niemand weiß, wie man zu
einer nachhaltigen Wirtschaft gelangen könnte. Gruppen oder Einzelpersonen, die
vorgeben zu wissen, wo es langgeht, stehen zu Recht unter Ideologieverdacht.
Sicher ist nur, daß die gegenwärtigen material- und energieintensiven Strukturen
und Prozesse nicht lange durchhaltbar sind. Praktische Versuche, daran etwas zu
ändern, dem Ideal der Nachhaltigkeit näherzukommen, bergen das Risiko von
Fehlschlägen. Gescheiterte Versuche sprechen aber nicht gegen das Ideal.
Davon abgesehen erlaubt jedoch die Konkretisierung
des SD-Leitbildes auf Betriebs- oder Konzernebene eher das Umgehen ideologischer
Streitigkeiten durch pragmatische Festlegungen als die Umsetzung des Leitbildes
in der Politik. Sinnvoll und nützlich ist es beispielsweise, dem Zeitgeist zum
Trotz, bei der Definition der "Öko-Effizienz" nicht von absoluten
Wachstumsgrenzen beziehungsweise von einem festen "Umweltraum" auszugehen,
sondern von einer angenommenen ökologischen Tragekapazität der Erde (der
Fähigkeit der Biosphäre, einer bestimmten Zahl von Menschen Ernährung und
menschenwürdige Lebensqualität zu sichern). Während die Annahme fester Grenzen -
zumindest implizit - die hoheitliche Rationierung knapper natürlicher Ressourcen
nahelegt, läßt der Begriff der Tragekapazität Raum für unternehmerische
Initiative. Denn die Tragekapazität der Biosphäre ist abhängig vom
Entwicklungsstand des Wissens, der Technik und des Humankapitals. Der Stand der
Technik entscheidet darüber, was überhaupt als Ressource anzusehen ist. Das
bedeutet, daß die Ressourcenbasis durch menschliche Anstrengungen,
nachhaltigkeitsorientierte Innovationen, vergrößert werden kann. Tatsächlich hat
sich die Tragekapazität der Erde seit der Erfindung des Ackerbaus (neolithische
Revolution) etwa vertausendfacht und könnte - nach allem, was wir heute wissen -
durchaus noch weiter gesteigert werden.
In der praktischen Auseinandersetzung spielt es
eine große Rolle, ob das Nachhaltigkeits-Postulat von einem anthropozentrischen
oder einem ökozentrischen Naturbild abgeleitet wird. In der letztgenannten
Sicht, die populären Schlagworten wie "Die Natur weiß es besser" zugrundeliegt,
ist Nachhaltigkeit kein geistiges Konstrukt, sondern ein naturimmanentes
Prinzip, dem sich die Menschen unterwerfen müssen, indem sie ihr Wirtschaften
nach dem Vorbild natürlicher Stoffkreisläufe organisieren, ihre Bedürfnisse
einschränken und der vorgefundenen Lebewelt einen Wert an sich beimessen. Tiere,
Pflanzen und sogar Steine sollen die gleichen Rechte haben wie die Menschen.
Konsequent zu Ende gedacht, müßte die Menschheit danach von sechs Milliarden auf
wenige Millionen Individuen zusammenschrumpfen. Außerdem ist zu bedenken, daß
die Natur - losgelöst von menschlichen Wertmaßstäben - Rechtfertigungen für
alles mögliche bieten könnte: für Sparsamkeit und Verschwendung, für Vielfalt
und Eintönigkeit, für Sensibilität und Brutalität, für evolutionäre und
katastrophale Veränderungen, für Stabilität und Fragilität. Jeder könnte sich
aussuchen, was ihm in den Kram paßt. Die Devise "Von der Natur lernen" ist
deshalb nicht ganz abwegig, aber sie setzt den Bezug auf humanistische Werte und
Ziele voraus. Wert hat aus diesem Blickwinkel nur das, was die Menschen aus
technischen, ökonomischen und/oder ästhetischen Gründen wertschätzen.
Aufgeklärte anthropozentrische Positionen betonen
daher den Nutzen des Arten- und Ressourcenschutzes für die Befriedigung
menschlicher Bedürfnisse. Der Versuch, Umweltqualitätsziele aus der Natur an
sich oder aus Erkenntnissen der Naturwissenschaften abzuleiten, kann sehr leicht
als illusorisch, wenn nicht absurd entlarvt werden. Dem Wasser zum Beispiel kann
es egal sein, ob es blau (das heißt oligotroph, nährstoffarm) oder grün
(eutroph, nährstoffreich) ist, zumal in eutrophen Gewässern mehr Leben ist als
in oligotrophen. Aber den Menschen, die sauberes Trinkwasser benötigen oder
baden gehen wollen, kann das nicht egal sein. Außerdem können die Menschen,
selbst wenn sie die Natur anbeten, diese nur mit ihren eigenen Augen betrachten:
Ein Mensch kann zwar singen "Ich wollt', ich wär' ein Huhn", die Welt aber
niemals mit den Augen eines Huhns sehen, sich nicht einmal theoretisch in dessen
Lage versetzen. Es fällt uns schon schwer genug, unsere eigenen Artgenossen
halbwegs zu verstehen.
Ordnungspolitisch sauber sind nach Ansicht eines
1996 von Lüder Gerken und Andreas Renner vom ordo-liberalen
Walter-Eucken-Institut, Freiburg, vorgelegten Gutachtens für das
Bundesministerium für Wirtschaft mit dem Titel "Der Wettbewerb der Ordnungen als
Entdeckungsverfahren für eine nachhaltige Entwicklung" nur Ansätze des SD, die
völlig auf staatliche Wissensanmaßung und auf naturwissenschaftlich abgeleitete
Ziele und Leitplanken verzichten und vielmehr auf die Selbststeuerungskräfte der
Marktwirtschaft mit einheitlichen, ethisch fundierten Spielregeln vertrauen.
Nachhaltig ist eine Politik aus dieser Sicht dann, wenn sie den reflektierten
Wünschen und Präferenzen der Marktteilnehmer entspricht. Das heißt: Wenn Kunden
weniger oder anders konsumieren wollen, um ihren Nachkommen mehr natürliche
Reichtümer zu hinterlassen, sollte man sie nicht daran hindern. Man sollte aber
auch jenen keine Vorwürfe machen, in deren Wertesystem die Belange künftiger
Generationen keine so große Rolle spielen, weil sie (wie etwa viele Amerikaner
mit ihrem fortlebenden Pioniergeist) davon ausgehen, daß jede neue Generation -
Mut und Tüchtigkeit vorausgesetzt - sich schon irgendwie zu helfen wissen
wird.
Edgar Gärtner, Hydrobiologe,
arbeitet als Fachredakteur und Unternehmensberater in Sachen "Sustainable
development" in Frankfurt am Main. Kontakt: http://www.gaertner-online.de
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